|
|
|
Wir
halluzinieren über die Wirklichkeit
Verzerrtes
Jahrzehnt: Thomas Leuner hat die Achtziger aus Sicht der Außenseiter
fotografiert und zeigt ihre Panik, ihren Rückzug, ihren Frust
Auf
Ihren Fotos, Herr Leuner, sehen die frühen Achtzigerjahre düster
und trostlos aus. War es wirklich so schlimm?
Nun, diese Bilder müssen vor Leuten bestehen, die nicht dabei gewesen
sind, auch wenn die sich nun fragen, wie man so nur gelebt haben kann.
Ich misstraue allen, die damals ihre Jugend erlebten und heute vor allem
die Distanz entdecken, die die Fotos zu ihrem gegenwärtigen Leben
einnehmen. Ein Bild, wie ich es nach einem Konzert im SO36 gemacht habe,
könnte man noch immer genau so machen die Frustration, das
blendende Saallicht, das ist auch heute nicht toll.
Haben Sie bewusst Bilder von Menschen ausgesucht, die nicht schön
sind?
Ich wollte einen Zustand beschreiben, so wie ich ihn verstanden habe.
Nennen Sie uns ein Beispiel.
An dem Tag, an dem Klaus-Jürgen Rattay überfahren wurde
... das war im September 1981. Er ist bei einer Demonstration unter
einen Bus geraten.
Die Hausbesetzer waren von der Polizei Richtung Potsdamer Straße
abgedrängt worden. Die war nicht abgesperrt, so dass ein Linienbus
Rattay erfasste. Demonstranten legten an der Unglücksstelle Blumen
nieder, als Zeichen der Trauer. Aber die Polizisten ließen sie nicht.
Immer wieder fegten sie die Blumen mit ihren Stiefeln beiseite. Dabei
fotografierte ich eine Szene, bei der aufgebrachte junge Männer am
Straßenrand standen und brüllten. Und ich sah eine junge Frau,
die auf einen Polizisten einredete. Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm
gelegt. Für mich beschreiben die beiden Bilder einen religiösen
Akt. Man findet in Gemälden des 15. und 16. Jahrhunderts denselben
Hass, dieselbe Sanftmut. Das Verlangen der Menge, für den Toten Blumen
niederzulegen, war ja genauso irrational wie das der Polizei, die Blumen
mit ihren Stiefeln zu zertrampeln.
Es war das Ende der alternativen Kultur?
Man hat sich danach verkrochen.
Die Achtzigerjahre wurden zu dem Mode-Phänomen, an das man sich jetzt
gerne erinnert?
Ich weiß noch, was für eine Sensation Mitte der Achtziger die
erste bunte Langnese-Reklame war. Plötzlich wurde im Kino über
einen Werbespot gelacht. Man sah Frauen Cocktails trinken. Das war neu.
Auf dem Titelbild Ihrer Reportage sieht man Hertha-Fans nach einem
Sieg ihrer Mannschaft über den Ku'damm ziehen und eine Deutschlandfahne
schwenken. Wofür steht dieses Bild?
Es war die letzte Aufnahme. Danach wusste ich, dass das Projekt abgeschlossen
ist. Ich wollte die gesellschaftliche Mehrheit aus einer Perspektive zeigen,
wie sie der Minderheit eigen ist. In einer Situation, in der Randgruppen
glauben, belächelt zu werden und nicht mehr zurück zu können,
wird die Normalität ignoriert.
Sie haben einen fremden Blick angenommen?
Genau.
Gilt das auch umgekehrt? Ist die Minderheit aus Sicht der Mehrheit dargestellt?
Gewiss. Allerdings kommt hier etwas anderes hinzu. Man kann geschlossene
Zirkel, Familien etwa, als Fremder nicht fotografieren. Sie öffnen
sich nicht. Erst als ich in eine WG einzog, also mich selbst zum Mitglied
einer halb-öffentlichen Gemeinschaft machte, wurde privates Leben
fotografierbar.
Waren Ihre Mitbewohner eingeweiht?
Ich hatte eine Anzeige in der taz aufgegeben, dass ich als
Fotograf und Jurist einen Platz in einer Kreuzberger WG suchen würde,
auch gerne mit Kindern. Wie weit sie voraussehen konnten, dass sie zum
Beobachtungsobjekt werden würden, weiß ich nicht. Aber wir
sprachen über mein Vorhaben. Ich arbeitete damals mit einer kleinen
Taschenkamera, die war neu. Ich hatte immer einen Apparat herumliegen.
Man gewöhnte sich daran. Die ersten Abzüge habe ich herumgezeigt.
Und als ich ein Stipendium bewilligt bekam, habe ich Süßigkeiten
für die Kinder und üppig zu Essen eingekauft.
Wolfgang Tillmans und Nan Goldin stehen heute für eine Entwicklung
in der Fotografie, bei der private Lebensumstände radikal veräußert
werden. Haben sie deren Stil vorweggenommen?
Das Konzept kommt aus Amerika. Larry Clark machte Ende der Siebziger ein
Buch namens Tulsa, für das er sich in der Drogenszene
fotografierte. Das zeigte uns, wie man so etwas angehen kann, sehr persönlich,
aber schonungslos. Wir entwickelten damals in Berlin ein neues Selbstverständnis,
indem wir sagten: Wir machen es wie die Amerikaner. Die deutsche Fotografie
hatte in den Fünfzigerjahren an den Stand von 1933 anzuknüpfen
versucht. Sie leugnete zwar nicht den Bruch, aber sie bezog sich doch
auf eine vergangene Epoche. Ende der Siebziger wurde uns klar, dass man
die amerikanische Szene der letzten Jahrzehnte aufarbeiten musste, sonst
kam man nicht weiter. Nur durch die Beschäftigung mit Robert Frank,
Ansel Adams und anderen ist der deutschen Fotografie der Anschluss an
die Weltspitze gelungen. Dabei handelt es sich vor allem um dokumentarische
Ansätze. Eine langweilige Sache, könnte man denken. Aber uns
liegt das. Auch Dokumentarfilme aus Deutschland sind im Durchschnitt immer
besser als Spielfilme. Wir mögen das stringente Denken.
Was haben Sie von den Amerikanern gelernt?
Der erste große Sprung bestand darin, Projekte über einen längeren
Zeitraum zu verfolgen. Das gab es nicht. Man widmete sich kommerziellen
Aufträgen und legte nebenbei eine Kunstmappe mit besonders gelungenen
Aufnahmen an. Wir zwangen uns außerdem, genau hinzugucken. Wir wollten
wissen, was uns die Wirklichkeit an neuen Bildern bietet. Das subjektive
Sehen, dass Dinge dramatisiert oder technische Eingriffe vornimmt, wollten
wir, soweit es ging, vermeiden. Für dieses Buch bin ich wie ein Filmemacher
vorgegangen. Der muss sich auch fragen, woher er das Geld bekommt und
wie er die Geschichte aufbaut. Und dann habe ich drei Jahre gebraucht.
Ich habe mich wie ein Mönch um Genauigkeit bemüht.
Haben Sie Sympathie für die Menschen empfunden?
Ich stamme aus einer Familie von Ärzten und Psychiatern. Seit meiner
Kindheit bin ich vertraut mit Menschen, die ihre dunklen Seiten haben
und schwierig sind und deshalb sehr radikale Ansichten vertreten. Ich
finde sie faszinierend. Je mehr Sympathie man für Menschen hat, desto
schwieriger wird es, sie zu fotografieren. Viele Kollegen haben das Gefühl,
dass sie als Freunde intime Szenen nicht fotografieren dürfen. Deshalb
entstehen die meisten Bilder erst gar nicht, bei denen man entscheiden
muss, ob sie veröffentlicht werden dürfen oder nicht.
Haben wir die Mauer übersehen oder kommt die bei Ihnen nicht vor?
Die Mauer ist nicht da. Sie hat keinen Platz. Wo sollte sie sein? Sie
war im Bewusstsein der Westberliner nur existent, weil sie Schutz bot.
Sie war die absolute Voraussetzung dessen, was ich dokumentiere. Als sie
wegfiel, zerplatzte der Luftballon.
Sie zeigen das Innere eines Hauses, ohne die Fassade wahrzunehmen?
Ja. Ich wollte eine Weltsicht beschreiben. Ich sage zwar, dass ich der
Beobachter bin. Aber das heißt nicht, dass ich zur Objektivität
verpflichtet wäre, selbst wenn ich realistisch fotografiere. Ich
habe eine Geschichte erzählt, im Grunde einen Mythos. In der gegenwärtigen
ästhetischen Diskussion wird der Objektivitätsbegriff auf die
Fotografie nicht mehr angewandt: Fotografen halluzinieren über die
Wirklichkeit. Daran glaube ich.
Interview: Lorenz Maroldt und Kai Mülle
|
|
|